Drei Geschwister –
eine Diagnose

Patientengeschichten

Die Erkrankung des Bruders rettet die Schwestern

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Im Universitätsklinikum Göttingen diagnostiziert Prof. Dr. Dr. Robert Steinfeld bei Sebastian eine bis dahin unbekannte Form der genetisch bedingten Cerebralen Folatdefizienz (CFD). Ein einzigartiger Therapieansatz rettet Sebastians Schwestern, die ebenfalls an dem Gendefekt leiden. Weltweit konnten danach weitere 20 Fälle identifiziert werden – über die Dunkelziffer lässt sich nur spekulieren. Aufklärung rettet Leben.

Sebastian ist ein aufgeweckter kleiner Junge. Bis er mit drei Jahren zu stolpern beginnt. Erst etwa einmal pro Woche, dann täglich. Irgendwann steht er nicht mehr auf, dann kann er nicht mehr sprechen und nicht mehr greifen. Epileptische Anfälle kommen nun stündlich. Drei Monate später sitzt er pflegebedürftig im Rollstuhl. Lungenentzündungen, Infektionen, und Verdauungsprobleme führen zu extremem Gewichtsverlust. Sebastians Zustand verschlechtert sich Monat um Monat. Dann treten dieselben Symptome bei der zwei Jahre jüngeren Schwester Janina auf. Wenn nicht schnell die Ursache gefunden wird, dann wird es für die Beiden zu spät sein. Mehr können die Ärzte nicht sagen.

„Zusehen zu müssen, wie einem Kinderleben durch die Finger gleiten, motiviert den Arzt und Wissenschaftler der Sache auf den Grund zu gehen“, erinnert sich Prof. Robert Steinfeld von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Göttingen. Es ist klar: Die Ursache muss im Gehirn liegen. Die MRT-Bilder zeigen, dass zu wenig weiße Hirnsubstanz – so genanntes Myelin – vorhanden ist. Die Frage ist nun, warum wird die weiße Hirnsubstanz nicht aufgebaut? Nach vielen Untersuchungen ist klar: Das für den Myelinaufbau erforderliche Folat kommt im Gehirn nicht an.

Sebastians Mutter, Dr. Gabriela Bopp, selber Naturwissenschaftlerin, beschreibt das Problem: „Folat, auch als Vitamin B9 bezeichnet,  wird über die Nahrung aufgenommen und im Rahmen der Verdauung aus dem Darm über den Blutkreislauf an die Bestimmungsorte im Körper transportiert.“ Prof. Steinfeld setzte mit seiner Forschung genau hier an. Durch aufwendige biochemische und genetische Untersuchungen entdeckte er einen Defekt im FOLR1-Gen, das für den Folatrezeptor alpha kodiert. In dessen Folge wird nicht genügend Folaterezeptor alpha Protein (FR?) hergestellt, um das Folat über die sogenannte Blut-Liquor-Schranke ins Gehirn zu transportieren.

Der Gendefekt ist erblich und tritt nur auf, wenn beide Elternteile im gleichen Gen Veränderungen (Mutationen) tragen. „Wenn man bedenkt, dass jeder Mensch etwa 20.000 kodierende Gene besitzt, dann ist die Chance, dass zwei Menschen mit Mutationen im gleichen Gen eine Partnerschaft eingehen, sehr gering.“, sagt Gabriela Bopp. Die Wahrscheinlichkeit dann ein krankes Kind zu bekommen, beträgt bei jeder Schwangerschaft 25 Prozent. „Drei Kinder mit derselben Erkrankung zu haben, ist also eigentlich unmöglich – nur nicht bei uns“, lächelt Robert E. Bopp, Sebastians Vater.

Eine Reparatur des Gens ist aktuell nicht möglich. Das bedeutet, dass die Folgen des Gendefektes ausgeglichen werden müssen. Hierzu gab es keine Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse. Prof. Steinfeld und sein Team entwickelten eine Behandlung, um das Gehirn mit Folaten zu versorgen  und somit die Folattransportdefizienz auszugleichen. Hierfür wird Calciumfolinat gleichzeitig in Form von Tabletten, als Infusion und über ein Ommaya-Reservoir direkt in das Gehirn eingebracht.

Die Arbeit hat sich gelohnt. Wenige Wochen nach Beginn der Therapie verschwanden die Symptome der einsetzenden Krankheit bei Janina vollständig. Auch Sebastians Zustand verbesserte sich in den kommenden Monaten. Zuerst ließen die epileptischen Anfälle nach und sechs Monate später war ein erstes Lächeln zu sehen. Weitere zwei Jahre später konnte er nach langem Üben den Rollstuhl verlassen. „Sebastian kann nach wie vor nicht sprechen, geschweige denn selbständig leben, aber er ist bei uns“, sagt Robert E. Bopp zufrieden. „Wir sind nur noch einmal pro Woche im Krankenhaus. Nicht mehr Wochen und Monate, wie früher.“

Dass bei der kleinen, 2009 geborenen, Bria auf Basis der Genanalyse ebenfalls eine CFD diagnostiziert wurde, schockierte die Familie und Ärzte dann aber doch. Mit der Erfahrung aus der Behandlung der Geschwister konnte schon im ersten Lebensmonat mit einer Therapie begonnen werden. Es ist nie zum Ausbruch der Symptome gekommen und Bria hat sich völlig normal entwickelt.

„Mittlerweile wissen wir von weltweit knapp 20 Kindern mit CFD. Wir haben die Ursache einer Krankheit entschlüsselt, wir konnten eine Therapie entwickeln und wir haben einige Kinder retten können“, sagt Prof. Steinfeld. „Das ist es, was den Arzt und Wissenschaftler gleichermaßen befriedigt! Das passiert vielleicht nur einmal im Leben, wenn man Glück hat.“

„Wie wichtig es ist, die Symptome zu erkennen und zu verstehen, wird deutlich, wenn man sich die Kinder anschaut. Wenn man schnell ist, passiert nichts, je länger es dauert, desto schwerer sind die Folgen. Wir hatten und haben das Glück, Ärzte zu haben die gut informiert waren und wussten wer weiterhelfen kann“, sagt Robert E. Bopp. „Deswegen haben wir die www.CFD-Foundation.de ins Leben gerufen. Wir hoffen, damit ein wenig des uns zu teil gewordenen Glückes weitergeben zu können“, ergänzt Dr. Gabriela Bopp, und strahlt bei dem Blick auf ihre Kinder.